KI, Vertrauen, Barrierefreiheit & Suche
Janus Boye arbeitet seit 25 Jahren im Bereich Innovation und Digital Leadership. Seit vielen Jahren sind er und byte5 freundschaftlich verbunden und jedes Jahr im Dezember sprechen wir über aktuelle Trends und Herausforderungen.
Mit KI passiert unglaublich viel. Im Jahr 2024 hat sich eine Art Reality Check ergeben. KI wird auch immer spannender für innovative Lösungen und Experimente. Aber auch für andere Use Cases hat sich der Mehrwert gezeigt: Ich glaube, unglaublich viele im digitalen Umfeld blieben von Automatisierung lange unberührt, weil es um die Implementierung von Lösungen ging. Vielleicht war ein bisschen KI im Hintergrund, aber vor ChatGPT haben wir nicht wirklich darüber gesprochen. Aber jetzt wird es sowohl auf der technischen Seite mit unterschiedlichen Co-Pilots eingesetzt, als auch auf der nicht-technischen Seite für z. B. Zusammenfassung von Interviews. Da gibt es eine Menge Anwendungsfelder, wo KI sehr sinnvoll ist.
Die zweite Säule, die ich spannend finde, sind die Softwarehäuser, die KI für coole Demos einsetzen, fast wie kleine Gimmicks „Jetzt mach bitte diese Überschrift länger/kürzer“, „Ändere die Tonalität“, so kleinere Sachen. Da sind wir schon ein Stück weitergekommen. Ich bin insbesondere begeistert, dass KI auch beim Thema Barrierefreiheit helfen kann, darüber sprechen wir auch später noch, z. B. automatische Generierung von Alt-Texten für Bilder. Beim Thema Barrierefreiheit haben wir noch eine lange Reise vor uns, aber es macht mir Freude, dass KI dabei unterstützen kann. Neben den Softwareherstellern gibt es natürlich auch die Agenturen. Für die Agenturen war 2024 das Jahr, in dem wirklich klar wurde, dass KI einen größeren Impact hat. Die Softwarehäuser können hier und da ein neues Feature hinzufügen und KI-Unterstützung einbauen. Aber von Agenturen erwarten Kunden, dass KI Teil des Werkzeugkastens ist. Das heißt, wenn der Kunde vorher bereit war, 10 Wochen auf eine Prototypentwicklung oder 6 Wochen auf Mockups zu warten, erwartet der Kunde jetzt doppelt so viel in der Hälfte der Zeit.
Ich glaube, das ist auf der einen Seite, ums optimistisch zu sagen, eine große Chance für Agenturen, denn die Arbeit macht sich auch mit KI nicht von selbst. Man muss ordentlich prompten. Das ist aber auch eine riesige Umstellung. Und wie mit anderen riesigen Umstellungen muss man am Ball bleiben. Das hat sich auch 2024 gezeigt: Es entwickelt sich bereits schnell und wird sich vermutlich im Jahr 2025 fortsetzen.
Das ist eine riesige Baustelle. Ich finde das Thema Vertrauen persönlich unter uns Menschen wichtig als je zuvor, auch in dieser polarisierenden Zeit. Vertrauen und der menschliche Umgang miteinander sind aktuell noch wichtiger. Klar spielt auch KI eine Rolle, aber auch Smartphones und die sozialen Medien. Jetzt, zur Weihnachtszeit, wenn ich auf Websites gehe, um Geschenke zu kaufen, spielt Vertrauen eine immense Rolle. Kann ich den Inhalten vertrauen? Wo kommen die Produkte her? Ist das von Menschen erstellt oder mit KI-Unterstützung? Diese Deklarierung ist noch im Aufbau. Das gilt auch für LinkedIn. Man stellt sich oft die Frage: Sind Bild und Text von Menschen generiert und authentisch?
Vertrauen war ein riesiges Thema auf unserer jährlichen Konferenz im November. Diese Vertrauenskrise ist ja eigentlich gar nicht neu. Die gab es auch vor der Pandemie. Und ich finde es interessant zu beobachten: Als Verbraucher, als Bürger, als Internetnutzer – Wo habe ich am meisten Vertrauen und wie verändert sich das über die Jahre? Für mich hat es der Keynote Speaker Tim Walters, ehemaliger Forrester Analytiker, wirklich auf den Punkt gebracht: Er hat gesagt, Vertrauen habe einen gemeinsamen Nenner mit Liebe. Ich kann nicht einfach sagen „Du musst mich lieben“, „Du musst mir vertrauen“ – ich muss mich so benehmen, dass ich glaubwürdig bin. Das heißt eben auch für Softwarehersteller und Agenturen, es reicht nicht, wenn ich auf der Website schreibe „Du kannst uns vertrauen“. Das muss am Ende der Kunde entscheiden. Und wir haben über die letzten Jahrhunderte gelernt, dass diese Entscheidung innerhalb weniger Millisekunden abläuft. Und jetzt mussten wir innerhalb der letzten 10 bis 20 Jahre lernen, wie wir damit digital umgehen. Leider ist mein Eindruck, dass es aktuell in Unternehmen in die falsche Richtung läuft. Dabei wäre zu Pandemiezeiten ein guter Anlass gewesen, digital Vertrauen aufzubauen. Aber alle Umfragen zeigen, dass das Vertrauen langsam sinkt – in die Politik, in Unternehmen, in Institutionen. Und das ist ein riesiges Problem, denn Vertrauen ist es auch, was uns verbindet, was Austausch möglich macht und dafür sorgt, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen.
Und das Thema gehört natürlich zusammen mit KI, denn mit der neuen Technologie können wir mehr tun. Schneller, effizienter und kostengünstiger digitale Lösungen schaffen. Aber KI löst nicht alle Probleme und Vertrauen ist eins von den größten Beispielen, wo wir als Menschen was tun müssen, wo wir uns in allen Bereichen Gedanken machen müssen: Wie gehen wir damit um – in Projekten, am Arbeitsplatz? In der Zusammenarbeit mit byte5 war New Work für mich immer ein großes Thema, und auch hier spielt Vertrauen eine Rolle. Darf ich von zu Hause aus arbeiten? In der Pandemie haben wir gelernt, dass viel möglich ist. Aber insbesondere größere Konzerne haben im Jahr 2024 wieder angefangen, die Mitarbeiter ins Büro zu bitten. Auch beim Thema „Psychological Safety“ ist Vertrauen ein riesiger Faktor, wenn auch nicht der einzige. Habe ich das Vertrauen, Feedback zu geben, auch wenn das nicht positiv ist? Wie wird dann damit umgegangen?
Vertrauensvoll zu agieren, das ist ein Thema, woran wir vielleicht auch als Branche arbeiten müssen. Da galt lange die Regel, solange es gut geht, sind alle glücklich, aber das führt eben auch dazu, dass manche IT-Projekte dann so richtig schiefgehen und es gleich sehr teuer für den Kunden wird. Und dann muss man sich fragen: Wie konnte es so schiefgehen? Und da haben wir noch einige Arbeit vor uns. Vielleicht müssen IT-Projekte modularer werden – wie Lego, das ist immer ein schönes dänisches Beispiel. Der Zusammenhang von KI, Vertrauen und IT-Projekten war für mich in diesem Jahr ein großer Augenöffner.
Barrierefreiheit hatte ich schon erwähnt. Es kommt ja auch der European Accessibility Act (EAA), und da hat die Digitalbranche eine Art kollektives schlechtes Gewissen. Die meisten, die länger als zwei Jahre Webprojekte betreuen, wissen, dass man bei der Barrierefreiheit einen besseren Job hätte machen können. Und ich finde es etwas unschön, dass man sich da auf Behörden aus Brüssel verlassen muss, ähnlich wie mit GDPR. Da war Deutschland vielleicht ein Vorreiter. Und GDPR fand ich eine gute Sache. Ich hoffe, dass es mit dem EAA ähnlich wird, denn da haben wir auch eine lange Reise vor uns. Die CMS-Anbieter könnten da meiner Meinung nach ein bisschen mehr tun, dass die Richtlinien einfacher eingehalten werden können.
Das gehört für mich auch zusammen mit dem Thema Suche. Es hat mich ein bisschen überrascht, dass das so ein großes Thema war. Aber ich glaube, das hat auch etwas mit KI zu tun. Denn ich gehe jetzt vielleicht nicht mehr zu Google, sondern gebe zu ChatGPT, um Antworten zu finden. Da hat sich 2024 wirklich was bewegt: Man sucht eine konkrete Antwort, ein Produkt und möchte nicht erst die Suchergebnisse durchklicken. Gefühlt haben wir 20 Jahre dasselbe gemacht: Du tippst Wörter oder eine Frage in die Suchmaschine ein und erhältst eine Liste mit Suchergebnissen. Und jetzt im Jahr 2024 fragt man sich „Warum brauche ich eine Liste mit Suchergebnissen?“ Wäre es auch möglich, dass ich sofort die Antwort erhalte? Das ist wie mit KI: Wir haben höhere Erwartungen. Und da sind wir auch definitiv noch nicht fertig, gute Lösungen zu basteln.
Barrierefreiheit und Suche sind zwei Trends, die sich 2024 schon abzeichnen und im nächsten Jahr noch größer werden.
Ja, ich glaube, da kommen wir weiter, aber das geht langsam und braucht Zeit. Das ist so wie mit Suche und Barrierefreiheit – das braucht lange Zeit. Wir müssen erst mal am Bewusstsein arbeiten. Das spüre ich auch bei Konferenzen. Wenn man einen Videocall macht, steht da ein CO₂-Verbrauch dahinter, genau wie, wenn ich ein neues iPhone kaufe. Wir verstehen mittlerweile, dass es grüner ist, mit der Bahn zu fahren als zu fliegen. Aber die Kopplung mit unserer digitalen Welt ist noch nicht da. Ein positives Zusammenspiel ergibt sich aber mit Barrierefreiheit. Wenn ich gute und saubere Lösungen erstelle, sind sie oft auch nachhaltiger. Dadurch entsteht eine Motivation, Webseiten schlank zu machen und die Richtlinien einzuhalten. Ich spüre, dass es bei Großkonzernen besser wird, dass es z. B. nicht das Autoplay-Video braucht, sondern ein Video mit Playbutton, was sowohl nachhaltiger als auch barrierefrei ist. Auch die großen Cloud-Unternehmen, wie Amazon, sind dieses Jahr einen guten Schritt weiter gekommen. Als Content-Reporting kann ich in meinem Nachhaltigkeitsbericht einblenden, wie viel ich für Cloud-Computing zahle. Ich glaube, das ist ein guter Weg dahin, mehr Bewusstsein zu schaffen. Wir kommen voran.
Und ich freue mich, dass Hersteller wie Umbraco ein Sustainability-Team haben, denn das brauchen wir auch von der Herstellerseite. Das ist vielleicht aktuell noch ein europäisches Thema, in Nordamerika spüre ich das leider weniger. Aber ich kann mir vorstellen, dass es sich von Europa ausbreitet, wie damals mit den Anfängen des Smartphones. Wir haben da natürlich auch eine individuelle Verantwortung. Aber mit Agenturen und Herstellern hat man die Chance, strukturell etwas zu bewegen.
Darum ging es in einem längeren Talk in Düsseldorf vor zwei Wochen. Die Frage ist erstens „Warum Change?“, denn viele können das Thema „Change“ nicht mehr hören. Die Antwort auf die Frage haben wir in diesem Gespräch schon gegeben: weil die Kunden das erwarten. Und wenn man sich im Open-Source CMS-Markt die großen Player anschaut, dann haben wir da WordPress, die aktuell Schwierigkeiten haben, Drupal CMS und weitere. Da stellt sich auch die Frage, ob sich vielleicht zu sehr um die Technik gekümmert wurde. Vielleicht können wir auch einen besseren Job machen für die weniger programmier-affinen Menschen, die zum Beispiel im Marketing arbeiten.
Wenn man nicht nur auf CMS schaut, sondern den ganzen Open-Source-Bereich betrachtet, sehen wir große Erfolge. Open Source ist sehr verbreitet und auch Unternehmen wie Google setzen darauf. Da fließt viel Geld rein. Ich denke, ein großes Thema im Open-Source-Bereich in den nächsten Jahren wird die Diversität sein. Die meisten Agenturen und Open-Source-Projekte werden von Männern geführt, die aussehen wie ich, die das erfolgreich seit 10 bis 15 Jahren machen – viele auch erfolgreicher als ich, und das ist super. Viele achten auch bereits auf Diversität. Aber wenn ich auf Konferenzen und Camps gehe, dann sehe ich, dass wir auch da noch eine Reise vor uns haben.
Auch die Einbindung von jüngeren Menschen ist noch ein längerer Weg. Wieso sollte man als Berufseinsteiger seine Karriere in Umbraco oder Drupal starten? Mit dieser Frage muss sich jedes Open-Source-Projekt beschäftigen und für sich eine Antwort geben. Open Source ist ein bisschen wie eine Familienfeier im positiven Sinne. Aber es macht den neuen Einstieg auch schwierig, wenn der ganze Raum voller Leute ist, die schon 2005 dabei waren. Darüber muss Open Source sich Gedanken machen. Denn Open Source ist ähnlich wie eine Demokratie. Man muss teilnehmen, man muss seine Stimme abgeben und was beitragen – mit Code, Blogartikeln, Events. Dann geht es auch vorwärts.
Vielen Dank für das Gespräch und deine wie immer spannende Einschätzung, Janus.